Der Bücherwurm (um 1850) von Carl Spitzweg (1808–1885)

Schreiber sind Bücherwürmer?

Nie gewesen!

Selten gab es ein Buch, das ich nicht mehr aus der Hand legen konnte 1. Wobei ich jedoch nicht den Büchern die Schuld gebe.

Obwohl die Lektüre der Ilias und der Odyssee (Homer, 800 v. Chr.) in der Voß’schen Übersetzung aus dem 18.
Jahrhundert eine wahre Qual war. Extrembeispiele – die sich gelohnt haben.

Ich bin zu sehr an das flüchtige Medium des Fernsehens, des Films, der Serie, der YouTube-Videos gewöhnt. Aber die Regelmäßigkeit hilft. Auch beim Schreiben: Kaffee, Jogginghose, Laptop – gleiche Uhrzeit, selber Ort.

Da wird oft vom Ritual gesprochen. Man kann sich also einen um den Schreibtisch tanzenden Kreativen vorstellen, der Apollon ein Glas Wein opfert, sich dann berauscht zum Schreiben niederlässt und vom göttlichen Strahl der Inspiration getroffen wird.

Direkt in den Kopf.

Und dann wird in die Tasten gehauen.

Ja, so kann man sich das vorstellen.

Ein leidenschaftlicher Akt, bei dem das Unbewusste regiert und ungehemmt Text produziert. Und ebenso hemmungslos wird gelesen und über Gelesenem verzweifelt, wenn man beispielsweise so schöne Sätze hat wie:

„Den Priester Chryses zu rächen, dem Agamemnon die Tochter vorenthielt, sendet Apollon den Achaiern eine Pest. Agamemnon zankt mit Achilleus, weil er durch Kalchas die Befreiung der Chryseis fordern ließ, und nimmt ihm sein Ehrengeschenk, des Brises Tochter. Dem zürnenden Achilleus verspricht Thetis Hilfe. Entsendung der Chryseis und Versöhnung Apollons. Der Thetis gewährt Zeus so lange Sieg für die Troer, bis ihr Sohn Genugtuung erhalte. Unwille der Here gegen Zeus. Hephästos besänftigt beide.“

Akkusativobjekt mit erweitertem Infinitiv, Relativsatz im Dativ, dann endlich das Subjekt (Juhu!!!) und schließlich noch das Dativ- und ein weiteres Akkusativobjekt. Nur der erste Satz!

Das muss man erstmal schreiben können.

Und dann auch noch lesen.

Mit dem Subjekt jeden Satz zu beginnen, ist auch wirklich nur etwas für den Pöbel. Von zitierten sieben Sätzen beginnen zwei damit. Die anderen fangen deswegen aber nicht mit einer Präposition oder einer Adverbiale an, nein. Es wird in die Vollen der deutschen Grammatik gegangen! Wozu gibt es Dativobjekte? Kurz und knapp muss alles sein! So wird auch heute noch gewettert: keine Füll- oder Blähwörter (unser Textkörper soll schlank und schön sein), möglichst wenig Adjektive und bloß keine Adverbien! Schreibratgeber bemühen diesen erhobenen Zeigefinger alle in gleicher Weise.

Und wie wir sehen, sehen wir nichts davon im über zweihundertjährigen Textausschnitt. Auch die Verwendung des Genitivs ist auffällig: „Befreiung der Chryseis“, „des Brises Tochter“, „Entsendung der Chryseis und Versöhnung Apollons“ sowie „Unwille der Here“. Ihm wird in Zukunft sowieso der Rang des schönsten Kasus’ vom Dativ abspenstig gemacht, dachte sich Voß vielleicht. Da können wir jetzt schon mal ein bisschen auf die Kacke hauen.

Ein Text in Vollendung!
Und trotzdem unlesbar.
Und trotzdem habe ich ihn gelesen!
Warum?
Weil es für einen Absolventen der Geisteswissenschaften zum guten Ton gehört?
Weil die Geschichten nicht nur fantastisch, sondern auch großartig sind?
Weil man nicht nur den wunderschönen Brad Pitt als Achilles gesehen haben darf?
Weil man sowieso nichts versteht und danach die arte-Dokus guckt?
Ja auf alle diese Fragen!

Und: Weil richtig gute Literatur derart bereichernd ist, dass sich die Arbeit an ihr lohnt.
Also lest, Leute, lest!


  1. Diana Gabaldon: Feuer und Stein, 1. Teil der Outlander-Saga. ↩︎